"Gesunde Ernährung und Sport ist der Königsweg in die Essstörung", sagt Deutschlands streitbarster Ernährungsexperte Udo Pollmer. Mit Fem sprach er über Diäten, die dick machen und Trugschlüsse übers Essen.
Herr Pollmer, Sie meinen wer weniger isst, legt trotzdem zu?
Wenn Sie eine Diät machen und auf Nahrung verzichten, merkt der Körper, dass die Energiezufuhr verknappt wird und läuft auf Sparflamme. Die Durchblutung von Armen und Beinen wird vermindert - kalte Hände und Füße sind die Folge. Die Heizenergie, die der Körper dann einspart, nutzt er, um am Bauch Fett aufzubauen - zum besseren Isolieren. Sie können durch weniger Essen also physikalisch korrekt zunehmen.
Aber ein Salat ist immerhin gesünder als Pommes!
Der Nähstoffgehalt von Salat entspricht etwa dem Nährstoffgehalt eines Tempotaschentuches in einem Glas Wasser. Der Gehalt an wertvollen Spurenstoffen kann sich nur auf das reichlich vorhandene Nitrat beziehen. Und das kommt vom Kunstdünger. Vitamin C liegt im Salat unter der Nachweisgrenze. Anders bei Wurstwaren. Denen wird seit Jahrzehnten Vitamin C zur Umrötebeschleunigung und zur Haltbarmachung zugesetzt. Deshalb enthält Bierwurst mehr Vitamin C als Paprika oder Orangen. Wer unbedingt Salat wegen der Vitamine essen will, sollte lieber zum Fleischsalat greifen.
Während die einen essen können, was sie wollen, treiben andere sogar Sport und verlieren nur wenig Gramm. Warum?
Das hängt es vom Körperbau ab: Leptosome Menschen, also die "Zaunlatten", haben ohnehin wenig Unterhaut-Fettgewebe. Werden sie unter Druck gesetzt, egal ob durch Ärger, Diäten oder Mobbing, dann nehmen sie ab. Wenn sich nun eine eh schon dünne Person für eine Diät entscheidet, dann verliert sie schon mal vier Kilo. Wenn sie dann vor jedem Fettauge auf dem Teller Angst hat, sorgt der Stress dafür, dass sie drei Kilo unter ihrem Normalgewicht bleibt. Wenn die sich dann gehen lässt würden sie in aller Regel nur ihr Normalgewicht erreichen und nicht etwa verfetten. Solche Menschen können so viel essen wie sie wollen, die kriegen nichts auf die Rippen.
Und wie ist das bei den Dicken?
Die reagieren genau umgekehrt. Wenn sie über längere Zeit seelischen Belastungen ausgesetzt sind, produzieren sie kontinuierlich Kortisol. Kortisol bewirkt auf Dauer genau das gleiche, wie wenn sie das praktisch identische Kortison einnehmen würden. Sie werden davon dicker, ihr Risiko für Diabetes und Herzkrankheiten steigt. Das kommt nicht vom Essen, sondern vom Ärger, von der Verzweiflung. In der Medizin spricht man vom Cushing-Syndrom. Es ist egal, ob man den Stoff als Medikament einnimmt oder im Körper selbst produziert. Deshalb bewirken Abspeckkampagnen, öffentliche Demütigungen und Umerziehungsprogramme bei Kindern und Erwachsenen auf Dauer nur unnötige Gewichtszunahmen.
Die Kampagnen für gesunde Ernährung bewirken genau das Gegenteil?
Mehrere Untersuchungen aus deutschen Großstädten zeigen, bei den pubertierenden Mädchen an Gymnasien übergeben sich ein Drittel regelmäßig, nimmt regelmäßig Medikamente zur Gewichtskontrolle oder ist ständig auf Diät. Gesunde Ernährung und Sport ist der Königsweg in die Essstörung - vor allem für die Schlanken. Essgestörte Kinder sind für die Eltern so belastend wie drogenabhängige. Die Prognose ist nicht viel besser. Die Dicken sind weniger gefährdet, die werden nur dicker. Vergessen Sie bitte nicht: Die Gewichts-Gesundessen-Kampagnen sind der Hauptgrund, warum junge Leute das Rauchen anfangen. Sie wollen damit ihr Gewicht kontrollieren, damit sie später auch einen Job kriegen.
Aber zwei Drittel der Männer und 51 Prozent der Frauen in Deutschland sind laut Bundesregierung übergewichtig!
In der Tat, zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen könnten nicht mehr auf dem Laufsteg laufen. Die Studie hat den BMI erfasst - also den Body Mass Index, der bei jungen Leuten bei einem Wert von 20 bis 25 liegt. Aber fast alle Leistungssportler - einmal abgesehen von Skispringern und Ballettdamen haben einen höheren BMI. Arnold Schwarzenegger wäre nach den Maßstäben des Bundesverbraucherministeriums ein fetter Hund. Im Laufe des Lebens verändert sich aber der Körper, er wird bei allen Säugetieren schwerer. Im 60. bis 65. Lebensjahr haben gesunde Menschen einen BMI um die 30. Die Zahl der Übergewichtigen nimmt also mit dem Alter rein rechnerisch zu. Nun misst der BMI nicht den Fettgehalt, sondern gibt das Verhältnis zwischen Größe und Gewicht an. Wenn Sie kurze Oberschenkel haben sind Sie zu fett. Wenn Sie als Mann breite Schultern haben, sind Sie automatisch übergewichtig. Haben Sie eine fraulich attraktive Figur, dann belasten Sie angeblich unsere Krankenkassen, weil Ihr BMI zu hoch ist. Die Zukunft der deutschen Frau liegt wohl im Silikon.
Wer gesund isst, stirbt früher
Udo Pollmer und Dr. Monika Niehaus, Verlag blv
Zur Person: Udo Pollmer (54) studierte Lebensmittelchemie in München und ist seit 1995 wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaft. (EU.L.E.). Der 54-Jährige lebt in Gemmingen bei Heilbronn. Seine Radio-Kolumne Mahlzeit läuft auf Deutschlandradio Kultur.
Interview: Steffi Wolf
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"Der Nähstoffgehalt von Salat entspricht etwa dem Nährstoffgehalt eines Tempotaschentuches in einem Glas Wasser" - sagt Ernährungsexperte Udo Pollmer - Foto: istockphotos